Sonntag, 31. Oktober 2021

Naturns: Besuch beim Schaukelmann



 
Das Dorf Naturns, bei Meran gelegen und geographisch dem Vinschgau, verwaltungstechnisch jedoch dem "Burggrafenamt" zugehörig, beherbergt eine der spannendsten kunstgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten Südtirols: Das winzige (Hauptraum nur ca. 5 x 5 m groß) Kirchlein St. Prokulus. Eigentlich sehenswert ist freilich nicht der Kirchenbau als solcher, sondern die darin erhaltenen vorromanischen Fresken mit dem berühmten "Schaukler" (s. Bild oben).
Bei Ausflugsfahrten nach Südtirol per Reisebus waren wir schon öfter dort vorbeigekommen, und stets hatte ich meiner Frau von diesen Fresken erzählt. 
Auf ihr Drängen entschlossen wir uns daher, am Donnerstag (14.10.) unserer 8-tägigen Urlaubsreise nach Schluderns (vgl. auch meinen vorangegangenen Blott über unseren Ausflug in das Städtchen Glurns) nicht (wie ich eigentlich vorgehabt hatte) die Churburg in Schluderns zu besichtigen, sondern eben den "Schaukler" in Naturns.
 
Im Hotel hatte wir die Vinschgaucard bekommen, die den Südtiroler Gäste-Pass (der natürlich zeitgemäß "Südtiroler Guest Pass" heißt) enthält. So fuhren wir gratis mit der "Vinschgerbahn" von Schluderns nach Naturs.

 
Zwischen Bahnhof und Ort hat die Natur die Etsch platziert; auch auf der dortigen Brücke hat der Brauch der "Liebesschlösser"  Einzug gehalten:

Der Ort macht - in den Teilen, die wir gesehen haben - einen wohlhabenden, modernen, aber dadurch eben auch etwas nüchtern-trockenen Eindruck.
Das fängt schon beim Bahnhofsgebäude an, wenn man es mit den gründerzeitlich-verspielten Empfangsgebäuden von Schluderns, Spondinig, Kastelbell, Latsch oder auch Algund, unmittelbar vor Meran, vergleicht (Fotos hier):
 
Eine Ausnahme bildet das Widum. (Im Westösterreichischen gebräuchlicher Ausdruck für das Pfarrgut bzw. den Pfarrhof; auch "der" Widum genannt).
 
Möglich, dass in der einen oder anderen von uns unerforschten Seitengasse noch Relikte alter Gebäude übriggeblieben sind.
Aber die Hotels etwa scheinen durchweg modern - und kastenförmig - zu sein, auch wenn ihnen die Apfelfelder im Vordergrund eine ländliche Note geben:

Etwas beschwingter schaut, dank der oben gerundeten Fenster und vor allem der rund hervorspringenden Balkons, das 4-Sterne-Superior-Hotel "Prokulus aus.
 
Aber auch das ist letztlich ein Einheitsbau, nicht zu vergleichen mit unserem 4-Sterne-Hotel "Engel" in Schluderns. Das steht mitten im historischen Zentrum und wurde offenbar an- und ausgebaut, ist also sozusagen "gewachsen". Der mutmaßliche Anbau dort (links auf diesem Facebook-Foto) ist zwar, wenn man sich die Blumen wegdenkt, auch nur ein "Kasten". Aber die Straßenseite passt sich schwungvoll der alten Straßenführung an. (Zugeben muss ich freilich, dass wir bei der Zimmerverteilung mit der Nr. 201 großes Glück hatten: Ein  sehr geräumiges Eckzimmer mit einem ästhetisch angenehm unregelmäßigen Grundriss und mit Ausblicken sowohl auf Kirche und Friedhof im Ortskern von Schluderns wie auf die den Ort überragende Churburg.)
Übrigens besteht in Naturns sogar ein 5-Sterne-Hotel, das "Wellnesshotel Südtirol - Preidlhof". Das bezeichnet sich als "Luxury Dolce Vita Resort – Adults Only Hotel".

Fast hätte Naturns drei Burgen, aber die von der Etschbrücke gut sichtbare Burg Juval, ein "Messner Mountain Museum" und Wohnsitz des berühmten Bergsteigers Reinhold Messner, liegt knapp jenseits der Gemeindegrenze:
 
Nicht weit vom Ortskern entfernt erhebt sich die Burg Hochnaturns:
 

Die befindet sich in Privatbesitz und kann innen nicht besichtigt werden. Für die
Tourismus-Genossenschaft Naturns hatte der jetzige Schlossherr Franz Gurschler allerdings kürzlich eine Ausnahme gemacht.
Dieses Panorama-Aquarell aus dem Jahr 1905 zeigt in der Bildmitte die Naturnser Pfarrkirche St. Zeno (die wir nicht besucht haben). Links die Burg Hochnaturns. Rechts jenseits der Etsch die Burg Dornsberg oder Tarantsberg, ebenfalls in der Gemarkung Naturns und ebenso wie Hochnaturns in Privatbesitz und nicht zu besichtigen.

Auch von dieser Burg habe ich ein Foto herangezoomt:

Nachmittags im Sonnenschein macht sich die Burg noch schöner:
 
Nun aber endlich zum eigentlichen Gegenstand unseres Besuchs, dem Fresken-Kirchlein St. Prokulus. Dessen romanischer Kirchturm ragt aus den umgebenden Anpflanzungen kleinwüchsiger Apfelbäume hervor:
 
Die Spitze ist nicht mit Dachziegeln oder Dachschindeln eingedeckt, sondern pyramidenförmig aus Steinen aufgemauert:
 
 
Älter als der Turm ist jedoch die Kirche, eine winzige "Saalkirche" (also ohne Seitenschiffe) von nur ca. 5 x 5 m Größe. Früher hielt man sie für vorkarolingisch (also vor der Zeit der Karolinger, die ab 751 das Frankenreich regierten, entstanden). Auch die Wikipedia gibt noch diesen überholten Forschungsstand wieder, wenn sie die Erbauungszeit mit "630 bis 650 nach Christus" ansetzt.

2016 war jedoch im nahe gelegenen Schloss Goldrain im Jahr eine wissenschaftliche Tagung abgehalten worden, auf der neue Forschungsergebnisse vorgestellt wurden. Ein Bericht über die Tagung erschien unter St. Prokulus bleibt im Gespräch, am 7. Dezember 2016 in der Zeitung "Der Vinschger" (nicht zu verwechseln mit dem Konkurrenzblatt "Vinschgerwind"!)
Publiziert wurden die Tagungsbeiträge allerdings erst am 22. Januar 2020, und zwar in dem Buch "St. Prokulus in Naturns: Veröffentlichungen des Südtiroler Kulturinstitutes. Band 10".
Erfreulicher Weise hat der Verlag nicht nur das Inhaltsverzeichnis, sondern neben Vorwort und Einleitung auch den ersten Aufsatz, eine zusammenfassende Übersicht, online gestellt (29 S.). Wenn man zumindest die (kurze) Einleitung gelesen hat, ist man als Laie ausreichend über die Datierung des Kirchenbaus und der (ersten) Freskierung orientiert: um das Jahr 1000, vermutlich im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts. Damit lässt sich auch die (höchst werbewirksame) frühere Meinung (wie sie noch 2015 Heinrich Koch vom Prokulus Kulturverein vertreten hatte) nicht mehr halten, dass es sich bei den vorromanischen Fresken im Inneren um die ältesten im deutschsprachigen Raum handele. 
Entsprechend heißt es im aktuellen Kurzführer (32 S.) von Hans Nothdurfter, erschienen 2020 (5,- €; vorzüglich bebildert): "Nach langem Stillstand [der Forschung] könnte sich ein Zeitrahmen ab 965 abzeichnen" (S. 19). Das bezieht sich zwar auf "Die Datierung der frühen Fresken", dürfte allerdings auch für den Kirchenbau gelten, weil die Fresken zugleich mit dem ersten Verputz aufgetragen wurden, d. h. es gibt keine ältere Putzschicht.

Von der Eingangsseite her sieht die Kirche so aus (die vorspringenden Überdachungen außen schützen - gotische - Fresken an der Südwand von Kirche und Kirchturm):
 
Die Schauklerszene schneidet diese Aufnahme nur an (links unten). Die ursprüngliche Kirche wurde zur Zeit der Gotik erhöht. Dadurch entstanden über den alten Fresken Mauerflächen, die freskiert wurden; hier mit dem Abendmahl. Jedoch wurden auch die alten Fresken mit einer neuen Putzschicht abgedeckt und übermalt. Diese gotischen Fresken von den unteren Wandhälften wurden 1923 entfernt, um die älteren freizulegen. Die Entfernung erfolgte jedoch so, dass die neueren Fresken ebenfalls erhalten blieben; diese sind jetzt im St. Prokulus Museum, auf der gegenüberliegenden Straßenseite zur Kirche, aufgestellt.
 

Um dem gotischen Neu-Putz Halt zu geben, hat man seinerzeit die alte Putzschicht mit der Hacke angerauht, was besonders an dieser Engelsfigur sehr gut zu sehen ist:
Bemerkenswert ist auch das Mäanderband über der Engelsdarstellung mit seiner dreidimensionalen Wirkung, das ebenfalls zum ältesten Freskenbestand gehört und eine Übernahme von antiken Vorbildern sein soll.

Links und rechts der ebenfalls in der Gotik dorthin verlegten Eingangstür (deren Durchbruch den Großteil dieses Freskos zerstört hat) ist eine Rinderherde mit einem Hütehund (mit hechelnder Zunge) dargestellt:
 
 
  

Der "Triumphbogen", der vom Kirchenraum zum "eingezogenen" (schmaleren) Chor überleitet, ist ebenfalls bemalt; hier die vom Eingang her rechte Seite (der monochrome untere Teil mit Engel und Flechtband alt; die bunte Malerei darüber wiederum gotisch):
 
 
Und hier noch der linke Engel:
 
 
Eine gut ausgeleuchtete Gesamtsicht vom Westeingang zum Ostchor (Triumphbogen) hin präsentiert die Facebook-Seite der Kirche.
 
Das war's - zwar nicht mit den Fresken; aber mit meinen Fotos davon. Wiele weitere sind mir misslungen - bei leicht zittrigen Händen und einer Einstellung auf ISO 800 kein Wunder und keine Schande.

Ohnehin finden sich in den Wikimedia Commons qualitativ deutlich bessere Aufnahmen, als ich sie bieten kann. Und zwar in den beiden Kategorien "Gothic Frescoes" und "Romanesque Frescoes". (Hier müsste es zwar richtig Pre-Romanesque Frescoes heißen; aber jedenfalls handelt es sich um die Fresken vom Schaukelmann usw..) Auch von den Museumsbeständen - dorthin übertragene (gotische) Fresken und dort gezeigte archäologische Funde aus dem Umfeld der Kirche - zeigen die Wikimedia Commons eine Reihe von Fotos.

Eine in diesem Rahmen relativ ausführliche Darstellung bringt "Kraftort im Meraner Land – St. Prokulus in Naturns" auf der Touristik-Werbeseite "Vinschgau Insider". Jedoch sind die Datierungsangaben in dem undatierten Aufsatz überholt.
 
Der PR-Bericht "Der Schaukler von Prokulus" im Südtiroler Online-Magazin "Barfuss" vom 02.07.2020 datiert den Kirchenbau ebenfalls fälschlich zu früh. Bei den Fresken legt man sich nicht fest, stellt aber die neuesten Forschungsergebnisse doch infrage: "Diese Wandmalereien sollen die ältesten im deutschen Sprachraum sein und aus dem 7./8. Jahrhundert stammen (zugegeben, manche datieren sie auch auf ein paar Jahrhunderte später)."
 
Und dann hat noch die Historikerin Anne Mann in Ihrem Blog "mann schreibt geschichte" die Frage aufgeworfen: "Wer schaukelt denn da? Eine kleine Kirche in Naturns gibt Rätsel auf". Allerdings datiert ihr Blogpost vom 11.01.2019 und nennt als Literaturquelle das Buch "Hans Nothdurfter, St. Prokulus in Naturns, Lana 2004". Das gibt einen mittlerweile überholten Forschungsstand wider, aber der Tagungsband mit den neuen Forschungsergebnissen war zu diesem Zeitpunkt ja noch nicht erschienen.
 
Sicher ist jedenfalls, dass diese Eidechse jünger ist als der Kirchenbau:
 
Wir verlassen Kirche und Museum - und erholen uns beim Anblick der Natur (wenngleich agrarisch gezähmter Natur):
Falls auch Sie erschöpft sind (vom Lesen?): Beißen Sie doch einfach rein in einen Apfel! Wer oder was hindert Sie daran? Ich jedenfalls nicht! 😈

Wir freilich verspeisten keine Äpfel, sondern ein leichtes Mittagsmahl
im Café Beck auf dem Rathausplatz:
(So verlangt es jedenfalls der Gang meiner Blog-Erzählung; tatsächlich hatten wir schon vor der Kirchenbesichtigung dort gespeist. 😇)
 
Und was Sie betrifft: Wenn Ihnen die Äpfel oben nicht gemundet haben, versuchen Sie einfach diese hier:
 


ceterum censeo
 
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der ist nicht "weltoffen":
Der hat den A.... offen!
Textstand 03.12.2021

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