Montag, 25. Oktober 2021

Glorenza est omnis divisa in partes tres

 
 
In der Vorbereitung auf unseren Urlaub kürzlich in Schluderns (darüber später mehr) habe ich mich u. a. mit dem Städtchen Glurns (ital.: Glorenza) besonders intensiv befasst. Obwohl es nur gut 900 Einwohner zählt, ist es rechtlich eine Stadt - und sogar die einzige im ganzen Vinschgau (it.: Val Venosta, das Tal des einstigen rätischen Stammes der Venosten).
Dennoch konnte ich mir kein richtiges Bild von einem Ort machen, wo es eine arkadengesäumte "Laubengasse" gibt, die überall groß herausgestellt wird, aber anders, als man es sonst aus mittelalterlichen Orten mit arkadenüberwölbten Bürgersteigen kennt, gar nicht die Hauptstraße des Ortes ist. 
Merkwürdig sind auch die relativ großen freien Flächen im ummauerten mittelalterlichen Ortskern. (Insbesondere im Nord-Osten - auf der eingenordeten Karte oben rechts - und rechts außen, also im Osten).

Wirklich verstehen kann man das Stadtbild (vgl. den Screenshot der OSM - OpenStreetMap) erst dann, wenn man die  (ungewöhnliche) Geschichte des Ortes kennt.

Als Stadt gegründet wurde er von dem bedeutenden und weitsichtigen Grafen Meinhard II von Tirol, der auch die (einstige) politische Einheit dieses Landes begründet hatte. (Wir waren ihm wir wenig vorher bereits im Stift Stams als Gründer begegnet).
Doch existierte unmittelbar daneben bereits ein Dorf, das der Herrschaft des im Vinschtal wie ein Fürst reich begüterten Bischofs von Chur unterstand. Im heutigen Kartenbild ist es das beinahe regelmäßige Rechteck links, also im Westen das von der Malser Straße und dem Stadtplatz von der Meinhardstadt abgetrennt wird.
Dennoch ist die (sehr viel größere) trapezförmige Fläche rechts der Achse vom Malser Tor (im Norden) zum Tauferer Tor (im Süden) nicht mit dieser Meinhardstadt identisch. Diese bestand am Anfang lediglich aus der Laubengasse (nachfolgendes Foto vom westlichen Eingang, aus Richtung Stadtplatz kommend) und umfasste nur 30 Häuser
   
Noch heute ist, wie Stadtplan und Foto zeigen, die Bebauung dort besonders dicht.

Doch wie man es auch in anderen mittelalterlichen Städten verschiedentlich findet, hatte man (d. h. hier: Kaiser Maximilian I in seiner Eigenschaft als Tiroler Landesherr) mit der kurz nach 1500 begonnenen (neuen) Befestigung der Stadt in allzu optimistischer Einschätzung der weiteren Entwicklung ein allzu großes Mauerkleid geschneidert (zahlreiche Fotos bringt die "Burgenwelt"). Den Raum im Nordosten und Osten konnte die Stadt nicht mehr ausfüllen; im Süden hatte sich aber wohl bis dahin schon ein Handwerkerviertel entwickelt.
Direkt an der Stadtmauer liegt die "Gerbergasse":
(Denkbar wäre übrigens auch, dass Maximilians Stadtplaner ganz bewusst große Freiflächen innerhalb des ummauerten Raumes belassen haben, um diese ggf. als Heerlager für eine Armee zu benutzen.)
 
Der berühmte Eingangssatz zu Julius Cäsars "Gallischem Krieg" bildet also ein gutes Hilfsmittel, um sich die Stadt in ihrer Entwicklung vorzustellen und einzuprägen. Gleich ganz Gallien besteht auch ganz Glurns aus 3 Teilen: 
  1. Ursprüngliches (churbischöfliches) Dorf, 
  2. nachfolgende (Tiroler) Stadtgründung daneben und 
  3. einer Art von "innerer Neustadt", die sich nach der Ummauerung längs der Florastraße, der heutigen Hauptstraße, noch entwickelt hat.
Wann und wie auch das churbischöfliche Dorf an das Land Tirol kam, weiß ich nicht; jedoch muss das vor der Ummauerung, also vor 1500, geschehen sein.
 
Ebenfalls ungewöhnlich ist die Tatsache, dass die Stadtpfarrkirche St. Pankraz außerhalb der Stadt steht. Der Grund liegt wohl in dem Bestreben, die Kirche und den sie umgebenden Friedhof hochwassersicher anzusiedeln. Denn sie liegen in leicht erhöhter Position zwischen der Stadt und der Etsch, welche die Stadt nicht selten überschwemmte.
 
 
Auch in Südtirol hat die Kirche offenbar Probleme. Die Zahl der Kirchenaustritte scheint dort zwar gering zu sein. (Wenngleich es auf Facebook eine Informationsseite zu den dortigen Austrittsformalien gibt.) Einem Artikel der österreichischen Zeitung "Die Presse" vom 20.01.2020 entnehme ich: "Die Diözese Bozen-Brixen hatte 2018 mit ca. 480.000 Katholiken nur 14 Kirchenaustritte". (Vgl. auch dieses Interview vom 12.10.2017 mit dem Stellvertreter des Bischofs von Brixen.)
Aber wahrscheinlich herrscht auch dort Priestermangel und zwingt zur Zusammenlegung von Pfarreien. Jedenfalls gehört Glurns jetzt zur "Seelsorgegemeinschaft" (Pfarreiengemeinschaft) "Mals, Planeil, Tartsch, Matsch, Burgeis – OSB, Schlinig – OSB, Laatsch, Schleis, Schluderns, Glurns, Taufers im Münstertal".
 
 

Im unteren Bereich schmückt ein Fresko die Nordseite des Kirchturms; .....

Im oberen Teil zeigt es das Jüngste Gericht und unten die Auferstehung der Toten:

Auf dem Friedhof hat der in Glurns geborene, trotz frühen Wegzugs mit seinen Eltern nach Innsbruck seiner Heimatstadt stets verbunden gebliebene, Karikaturist Prof. Paul Flora (Wikipedia) ein Ehrengrab  erhalten:

Beim Verlassen des Friedhofs öffnet sich ein schöner Blick auf das "Tauferer Tor" (auch "Etschtor" genannt) .....

..... und eben in dieser Tor-Festung ist (auf mehreren Etagen) eine Ausstellung über  Leben (die dort gezeigten Fotos findet man auch auf sozusagen "seiner" Homepage) und Werk des Künstlers untergebracht:

Paul Flora ist (bislang einziger) Ehrenbürger der Stadt Glurns; die Urkunde darüber hängt im Museum:
 
Auf der Webseite PaulFlora.at kann man sich ein Bild von seinen Bildern ein Bild machen.
 
Wer das Treppensteigen nicht scheut, wird im Torturm nicht nur durch Kunst erfreut, sondern auch durch auch schöne Ausblicke auf Stadt und Umgebung.
Hier auf den "Tartscher Bichl" (oder Tartscher Bühel); im Hintergrund die Turmspitze des uralten Kirchleins St. Veit am Bichl.
Im Vordergrund fährt gerade die Vinschgaubahn vorbei. Die war 1906 eröffnet, 1990 eingestellt und, nach erfolgter Modernisierung, 2005 wiedereröffnet worden. Sie wird von der Bevölkerung gut angenommen (und von den Touristen sowieso).
 
2018 hat der Südwestfunk in seiner Sendereihe "Eisenbahnromantik" ein schönes Video über diese Bahn herausgebracht:
 
Was dieser "komische Vogel" am Tauferer Tor darstellen soll, weiß ich nicht; .....
 
 
..... aber auch von innen ist er lustig anzuschauen:

Die aufgemalten Wappen (Erläuterung) am Stadttor (hier innen, nächstes Foto außen) dürften aus jener Zeit stammen, "als Böhmen noch bei Österreich war" - und Südtirol ebenfalls. Tempi passati.
 
 
 
Wir schauen uns noch ein kleines Stück Wehrgang an, dass neben dem Torturm zugänglich ist. Interessant, dass die Schießscharten (durch die wir hier auf die Etsch blicken) an der Unterkante eine Auflage aus Holz hatten, offenbar für die Waffen der Verteidiger:
 

Nun aber zurück zum geräumigen Stadtplatz: Der Magen knurrt allmählich.

Zum Glück ist gleich ein Restaurant zur Hand, natürlich in einem alten Gemäuer: Das Gasthaus Grüner Baum (Homepage).
 
Zwar haben wir haben dort gut und zu zivilem Preis gespeist, und die historische Atmosphäre gab's gratis dazu, .....
 
.... aber eigentlich hätte ich als Steinbock ja "mein" Restaurant aufsuchen müssen:
Das liegt in der Hauptstraße, doch im Vorbeifahren mit dem Bus hatte ich es übersehen und erst später entdeckt. (Wir waren mit dem Bus von Schluderns aus gekommen und zunächst durch die Stadt hindurchgefahren; erst hinter dem Malser Tor stiegen wir aus.)
 
Jedenfalls waren wir gestärkt und bereit zu neuen großen Taten.😃 Der erste Teil unserer Stadterkundung führte uns durch das einstige churbischöfliche Dorf.
 
Dort herzt Maria das Jesuskind (von dem ich mal nicht hoffen will, dass es nachts an den Weintrauben nascht!):
 
 
Weltberühmt ist das Glurnser Qualm-Quartett (aber das können Sie nicht wissen, Sie hören ja keine klassische Musik😈).

Ich bezweifle, dass die Stadtbevölkerung im Verteidigungsfalle sämtliche der zahlreichen Schießscharten hätte besetzen können. Doch war die bis zu 10 m hohe mittelalterliche Mauer ohnehin bereits bei ihrer Fertigstellung (um 1580) wehrtechnisch obsolet; nunmehr versah man Festungen mit einem bastionären System von Gräben und relativ flachen Wällen, die einem Kanonenbeschuss besser standhalten konnten.

Diese Schäden sind natürlich nicht die Folge von Kriegseinwirkungen. Zahn der Zeit, Vandalismus, nachgiebiger Baugrund? Erdbeben kommen zwar auch in Südtirol vor; aber nur selten ("... [ich komme] aus dem an dergleichen Ereignissen armen deutschen Etschtale" schrieb Prof. Josef Schorn um 1900 in seiner Arbeit "Die Erdbeben von Tirol und Vorarlberg".)

Auch an anderer Stelle, nahe der Stadtmühle, fanden wir ein rissiges Haus (ebenso übrigens auch "daheim" in Schluderns):
(Wie ein Blick auf die Wikipedia- "Liste der Baudenkmäler in Glurns" verrät, ist dieses Haus Nr. 15 - 17 in der St.-Pankratius-Gasse sogar denkmalgeschützt.)
 
Am sogenannten "Schloss Glurns" (an der Süd-West-Ecke der Stadt, also links unten auf dem Plan) .....

..... hat man einen guten Blick auf die Pfarrkirche:

Dieses Foto zeigt zusammen mit der Kirche auch ein wenig mehr vom sog. "Schloss Glurns", ein "Ansitz", der auch die Namen Schidmannsturm, Spatzenturm (so in der Denkmalliste), Oberturm, Altthurm und Scarpatettiturm trägt:

Ungefähr von der Kirche her aufgenommen stellt sich die Gesamtanlage so dar:

Ein Foto von außen (Westen) ist hier zu sehen.

Im Innenhof der zweiflügeligen Anlage sieht es freilich im Moment aus wie unter dem berühmten Sofa der Familie Hempel:


Doch immerhin entdecken wir
Dort eine hübsche hölzerne Tür:

Am "Boutiquehotel" Belvenu vorbei .....
 
..... gelangen wir zurück auf den Stadtplatz und von dort in die St.-Pankratius-Gasse im alten Handwerkerviertel.
 
Welche Funktion diese Gräben vor einigen Häusern einstmals hatten, weiß ich nicht. Jedoch habe ich solche auch in Schluderns gesehen.
 
Auch diesem schmucken Haus ist wohl die Stadtsanierung zugute gekommen:
 
Die Stadtsanierung begann Anfang der 70er Jahre, aber letztlich ist das eine Daueraufgabe (vgl. z. B. diesen Bericht im Vinschgerwind über ein Projekt aus dem Jahr 2012). 
 
Ob es einer Auflage des Denkmalschutzes zu verdanken ist oder der Liebe des Bauherrn zum Historischen: Jedenfalls wurde hier ein Wohnhaus in altes Gemäuer (vermutlich einer ehemaligen Scheune) eingebaut. Auch in Schluderns sah ich mehrfach Vergleichbares:
 
Knorrige Birnbäume (wohl der berühmten "Palabirne") verdecken teilweise die alte Stadtmühle (das niedrige Gebäude rechts im Vordergrund):
 
Doch überliste ich sie, indem ich den Standpunkt wechsele:
Von rechts strebt der Mühlgraben auf das Mühlrad zu. Dort regelt ein Schott, ob das Wasser geradeaus zum Mühlrad fließt oder nach rechts unten in die Gerbergasse hinab (wo wir es später wieder sehen werden).
 
Noch wurde nicht jede Scheune wurde zur Wohnhaushülle umfunktioniert; doch sagte uns ein Einheimischer, dass lediglich noch ein einziger Bauer seinen Hof in der Altstadt hat:
 
Malerische Eckchen gibt es in dieser Gegend:

 
Und hier das "Haus Blumenhirschbalkon" nochmal aus anderer Perspektive herangezoomt:
 
 
Die aufgelockerte Bebauung am Ostende der sozusagen "alten Altstadt" lässt Raum für Gärten:
 

In der Feuchtigkeit des Mühlbachs (links die Ableitung vor der Mühle, rechts das Rad der 2009 restaurierten Stadtmühle) wuchert Gebüsch:


Wenn das ein Angebot sein soll, dann eines, das man besser ablehnt.😁 Allerdings kann der berüchtigte "Vinschger Wind", der vom Reschenpaß ins Tal herabfällt,
schon nerven ..... .

Der Vinschger Fallwind gibt sogar einem örtlichen Magazin (gegründet 2005 als David gegen den Athesia-Riesen) den Namen. 
 
Hier halten Halme mal einen Moment still:
 
Und nun haben wir die Kurve gekriegt zur Laubengasse:

 
Während ich mir bei den vorherigen Bildern "einen abbrechen" musste, um Ihnen eine Geschichte zu erzählen und für uns selber etwas Erinnernswertes festzuhalten, sprechen die folgenden Fotos für sich. Schönheit durch Alter ist eine Botschaft, die mir sehr zupass kommt!😛

 
 



 
Breitbeinig wie der Bau dasteht wirkt er mächtiger, als er im Vergleich zum Nachbargebäude tatsächlich ist:


Aus der Laubengasse verabschieden wir uns mit einem Lauben-Durchblick .....

..... und aus der Stadt, indem wir noch einmal Paul Flora "erblicken": Der wurde in jenem Gebäude geboren, das heute als Rathaus genutzt wird:

 
Dass es so stattlich ist verdankt es seiner einstigen Entstehung als Adelssitz:
 
Durch das "Schludernser Tor" kehren wir mit dem Bus nach Schluderns zurück. Auch in diesem Torturm wurde ein Museum eingerichtet, dass die geschichtlichen "Stationen einer kleinen Stadt" präsentiert. Doch ruft uns das Abendessen im Hotel heim ..... .

 
Ein gut gemachtes und relativ langes Video über Glurns ist "GLORENZA la più piccola 'città' d'Italia" betitelt und dem entsprechend in italienischer Sprache:
 
Dass Glurns die "kleinste Stadt Italiens" sei, stimmt freilich nicht. Flächenmäßig sowieso nicht, aber auch nicht nach Einwohnerzahlen. Meister in beiden Kategorien ist Atrani an der Amalfi-Küste (801 Einwohner, 0,2 km² Fläche lt. Webseite "Citypopulation.de").

Ebenfalls mehr als 10 Minuten lang und in vorzüglicher Qualität ist dieses Video, das zudem den Vorzug hat, deutschsprachig zu sein:

 
Nachträge 29.10.2021

Gerade habe ich den Blogpost "Wie ich mich in Glurns verguckt habe" (von 2015) entdeckt. Der Reiseblog "Travelita" ist zwar kommerziell. Aber jedenfalls dieser Beitrag ist wirklich liebevoll getextet. Insbesondere gefällt mir die anspruchsvolle Bebilderung mit ihrem sicheren Blick für liebenswerte Details.

2005 hatte das lokale Blatt "Der Vinschger" (nicht zu verwecheln mit dem Konkurrenzblatt "Vinschger Wind"!) einen informativen Artikel über Glurns publiziert.
Noch ausführlicher informiert der Apotheker und Schrifsteller Hans Perting aus Mals unter "G wie Glurns" über die Stadt.
Über den Glurnser Mäuseprozess hatte ein Blogger im April 2020 berichtet. Der nennt lobenswerter Weise auch seine Quelle, nämlich das Buch "Beten, Impfen, Sammeln. Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämpfung in der Frühen Neuzeit", hrsg. vom Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte der Uni Göttingen, dass man kostenlos herunterladen kann.
Fotos in Mengen, nicht nur von Glurns, bietet die (kommerzielle) Bilderdatenbank "südtirol-bild".
 
 
 
ceterum censeo
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der ist nicht "weltoffen":
Der hat den A.... offen! 
Textstand 30.11.2021

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