Montag, 10. Januar 2011

Steinzeit-Tarifierung im öffentlichen Personennahverkehr im Landkreis Ostallgäu

Solche Leute haben wir gern: wohnen (noch) gar nicht in der Gegend, aber schon mosern!

Auch mir ist durchaus klar, dass der ÖPNV ein kostspieliges Zuschussgeschäft für den Staat ist. Aber hier geht es nicht um Forderungen nach einer Ausweitung des Leistungsangebots, und ebenso wenig um Forderungen nach einer Tarifsenkung [wiewohl ich gegen eine Seniorenkarte natürlich nichts einzuwenden hätte ;-) ].
Hier geht es ausschließlich um die Tarifstruktur,
und die ist in meinen Augen 'verkehrspolitische Steinzeit'.

Meine Frau und ich werden demnächst nach Schwangau umziehen und da wir kein Auto haben, sind wir auf den ÖPNV angewiesen. Läden des täglichen Bedarfs, Post, Ärzte und sogar eine Apotheke sind von unserer zukünftigen Wohnung sämtlich bequem zu Fuß zu erreichen.
Aber natürlich bietet die benachbarte Stadt Füssen noch mehr Einkaufsmöglichkeiten, vor allem aber auch ein reichhaltiges kulturelles Angebot und zahlreiche lockende Ausflugsziele.

Da lag für mich die Idee nahe, ein Monatsticket für Busfahrten in Schwangau und nach Füssen zu abonnieren. Immerhin existiert eine „Ostallgäuer Verkehrsgemeinschaft“ mit einheitlichen Tarifen. Die wird vom Landratsamt aus organisiert (ist also kein rechtlich selbständiges Gebilde) und auf der Webseite des Landratsamtes gibt es alle einschlägigen Informationen.
Vergeblich freilich suchte ich beim Studium der Tarife nach dem, was ich hier aus dem RMV-Gebiet kenne und auch von zahlreichen anderen Verkehrsverbünden: Tarifzonen nämlich. Vielmehr richtet sich der Fahrpreis nach der gefahrenen Kilometerzahl. Das ist gerecht (insbesondere bei einer sehr feinen Abstufung von 2 - 4 Kilometern, wie sie hier verwendet wird), aber eine solche Form von Gerechtigkeit ist auch außerordentlich einengend.

Nun ist natürlich eine "Verkehrsgemeinschaft" kein "Verkehrsverbund", aber der Unterschied liegt lediglich darin, dass die Erstere nicht alle Verkehrsträger umfasst. Das trifft z. B. für die Verkehrsgemeinschaft Kempten zu, die den nördlichen Teil des Landkreises Oberallgäu umfasst und deren Tarife - mit gewissen Ausnahmen - nicht für Bahnfahrten gelten. Auch hier sind aber die Tarife nach Zonen gestaffelt.

In der Verkehrsgemeinschaft Ostallgäu dagegen kann man Zeitkarten immer nur von einer Abfahrtshaltestelle A nach einer Ziel-Haltestelle B lösen. Damit sind Zeitkarten in dieser Tarifgemeinschaft ausschließlich für Berufspendler und für Schüler gedacht und interessant. Aber daneben gibt es doch eine ganze Reihe anderer Personen, die zwar häufig fahren (bzw. fahren bei einem entsprechenden Angebot fahren würden), die aber jeweils wechselnde Haltestellen ansteuern (und u. U. auch von unterschiedlichen Halten abfahren)? Einkaufen, Arztbesuche, Besuche bei Freunden und Verwandten, Freizeitgestaltung (Sport, Kultur, Erholung) - viele Gründe sind denkbar, die Menschen dazu bewegen könnten, sich eine Monatskarte zu kaufen, obwohl sie nicht unbedingt darauf angewiesen sind.

Ich wollte es einfach nicht glauben, dass es im Landkreis Ostallgäu keine Monatskarten gibt, die für bestimmte Gebiete, unabhängig von der angefahrenen Haltestelle, gelten, also keine Tarifzonen. Ich richtete also folgende Mailanfrage an die zuständige Stelle:

"Meine Frau und ich sind Rentner und werden demnächst nach Schwangau umziehen. Da wir kein Auto haben, sind wir auf den öffentlichen Personen-Nahverkehr angewiesen, also insbesondere auf die Busse in der Ostallgäuer Verkehrs Gemeinschaft (OVG).
 Wir würden uns gern eine Zeitkarte kaufen, welche die Gemeinden Schwangau und Füssen (komplett) abdeckt. Leider werde ich aus Ihren Tariftabellen (und auch aus dem Vordruck "Umwelt-Abo", den ich mir in Füssen bereits besorgt habe) nicht schlau.
 Von unserem hiesigen Verkehrsverbund, dem RMV, wie auch von zahlreichen anderen Verbünden kenne ich eine Fahrkostenberechnung nach Tarifzonen. Da könnte ich problemlos eine Monatskarte z. B. nur für Wächtersbach, oder von Wächtersbach in irgendeine andere Gemeinde des RMV, lösen.
Bei Ihnen scheint es so etwas nicht zu geben; anscheinend muss man sich für eine bestimmte Abfahrtshaltestelle und eine konkrete Zielhaltestelle entscheiden? Das hilft mir natürlich wenig, wenn ich beispielsweise innerhalb von Füssen heute zum Hopfensee und morgen zum Weißensee fahren möchte.
 Es gibt aber nicht nur Berufspendler oder Schüler mit immer gleichen Routen sondern eben auch Menschen, die zum Einkaufen oder zu irgendwelchen Freizeitzwecken unterschiedliche Strecken (in einem bestimmten Gebiet) benutzen.
Können wir auch dafür bei Ihnen Monatskarten bekommen, und vor allen Dingen: was kostet das für die Gemeinde Schwangau + Füssen zusammen?"

Die Antwort kam rasch und ist in sachlicher Hinsicht durchaus erschöpfend; der Sachverhalt jedoch ist aus meiner Sicht unbefriedigend:

"Monatskarten sind bei uns alle streckengebunden, nicht übertragbar und nur auf Chipkarte erhältlich. D. h. dass eine Monatskarte nur auf der eingetragenen Strecke gelöst und genutzt werden kann.
Die Monatskarte Schwangau - Füssen kostet pro Monat für Erwachsene 43,00 €. Bis Füssen-West kostet die Monatskarte 49,00 €.
Als Alternative gibt es bei uns allerdings die CleverCard. Die CleverCard ist eine elektronische Geldbörse, auf welche Geld gebucht werden kann. Bei jeder Fahrt wird der Fahrpreis von der Karte abgebucht, jedoch verringert sich dieser um circa 20 %. Die CleverCard ist nicht streckengebunden, übertragbar und nur auf Chipkarte erhältlich. Sie können mit dieser Karte auch das ermäßigte Tagesticket OVG erwerben.
Ich hoffe, Ihnen weitergeholfen zu. Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung."





Nun frage ich mich natürlich, ob ich der einzige Mensch (d. h. der einzige - zukünftige - Einwohner im östlichen Teil des Allgäus) bin, der sich eine Monatskarte für eine bestimmte Zone, nicht nur eine bestimmte Strecke, wünscht? Könnte nicht ein entsprechendes Angebot sogar eine stärkere Nachfrage generieren und damit auch wirtschaftlich ein Gewinn für die Verkehrsgemeinschaft sein? Und erst Recht für die Gastronomie usw.? Wie reagieren wir selbst, nachdem unser Wunschtarif nicht verfügbar ist? In die Füssener Altstadt werden wir wohl laufen, den Hinweg zumindest. Andere interessante Ziele, wie z. B. den Weißensee, Hopfen am See oder Bad Faulenbach und die dortigen kleinen Seen (Alatsee usw.) werden wir nur selten besuchen. Insgesamt werden wir also den Busverkehr nur sehr restriktiv nutzen. 
Es ist - bei uns wie zweifellos auch bei anderen - nicht einmal zwangsläufig so, dass man mit einer Monatskarte Geld spart. Gut möglich, dass man, zumindest übers Jahr gerechnet, am Ende mit Einzelfahrscheinen nicht mehr bezahlt hätte als mit einer Monatskarte (bei letzterer fallen allerdings bei ganzjähriger Nutzung Freimonate an). Ähnlich wie bei Handytarifen (Flatrates) ist vielen Benutzer die kalkulatorische Sicherheit das Wichtigste: man muss nicht lange überlegen, ehe man 'zum Hörer greift', wenn man einen All-inclusive-Tarif hat. 

Ich zumindest bin immer noch geschockt von der Ostallgäuer Tarifgestaltung, aber vielleicht bin ja ich der Exot, und alle anderen sehen das anders und sind glücklich und zufrieden mit der bestehenden Preisgestaltung?
Die Wikipedia jedenfalls bestraft die Ostallgäuer Verkehrsgemeinschaft mit Nichtachtung (unter dem entsprechenden Stichwort lesen wir per 10.01.2011 nur: "Hier kannst du einen neuen Wikipedia-Artikel verfassen"), im Gegensatz zur Verkehrsgemeinschaft Oberallgäu, welche den südlichen Teil des Landkreises Oberallgäu (u. a. also Immenstadt, Sonthofen und Oberstdorf) umfasst. Auch hier kommt allerdings lt. Wikipedia-Information "ein klassischer Entfernungstarif (kilometerbasierter Tarif)" zur Anwendung. (Als Touristen haben wir bei unseren Urlaubsaufenthalten in Immenstadt und - zweimal - in Oberstdorf davon allerdings nichts mitbekommen, weil wir das "Oberallgäu Ticket" genutzt haben, das freie Fahrt im südlichen Landkreis bietet.)



Nachtrag 11.01.11
Das Inklusivangebote den Umsatz ankurbeln, hat man in der Gegend durchaus erkannt - aber leider nur für den Fremdenverkehr. Für die Touristen bietet man die "Königscard" an, die in einer Pressemitteilung vom 04.07.2010 (die aktuellste auf der Webseite der in Marktoberdorf residierenden KönigsCard Betriebs GmbH) so beschrieben wurde:
"Den Königswinkel a la Karte entdecken
Über 150 Leistungen aus Natur, Kultur, Sport und Freizeit -  Urlaubsspaß zum Nulltarif
Königswinkel nennt man die märchenhafte Gegend im Allgäu rund um die Städte Pfronten,
Füssen und Schwangau, eingebettet in die Gebirgskette der Ammergauer Alpen. Mit der  brandneuen KönigsCard liegt einem der Königswinkel sprichwörtlich zu Füßen: Seit 1. Dezember
[2009] kann jeder stolze 150 Leistungen aus Natur, Kultur, Sport und Freizeit kostenlos entdecken.
 Bergbahnen und Lifte, Bäder und Badeseen, Museen, Freizeit und Natur, Sport und  Wandern im Sommer wie Winter machen Ihren Urlaub erlebnisreich und kalkulierbar.
Die KönigsCard ist die neue All-Inclusive Karte für grenzenlose Erlebnisse. Grenzenlos, weil
die Karte grenzüberschreitend neben dem Allgäu und den Ammergauer Alpen auch im österreichischen Reutte gilt, mit über 150 Gratisleistungen: Bergbahnen und Lifte, Bäder und
Badeseen, Museen, Freizeit und Natur, Sport und Wandern. Wer einen Aufenthalt in einem
der über 100 KönigsCard-Partnerbetriebe bucht, der bekommt die blaublütige Karte, die
den Urlaub noch erlebnisreicher und preisgünstiger macht, geschenkt.
"
 Die Gäste sind begeistert. Auch hier ist aber der ÖPNV (momentan noch?) ausgeklammert.

Rühriger ist in dieser Hinsicht die Gemeinde Pfronten. Die bietet ihren Gästen (außer der KönigsCard, soweit die Gastgeber Mitglied sind, d. h. Zuschüsse zahlen) im Rahmen der Pfrontener Gästekarte die kostenlose Nutzung der Buslinien über Füssen bis nach Schwangau, nach Nesselwang und sogar über die Landesgrenze hinweg nach Österreich ins Tannheimer Tal. (Und für die Anreise wird ein "Pfrontener Bahnticket" angeboten.)


Was ich mir also für den Nahverkehr im Landkreis Ostallgäu (bzw., ganz kühn gedacht, am besten gleich für das ganze Allgäu) wünschen würde, ist eine Tarifierung nach Tarifzonen im Sinne von Waben (Wabentarife), wie sie in Verkehrsverbünden (z. B. RMV, VRN usw.) üblich sind.


(Zum Thema ÖPNV in Allgäu vgl. auch meinen Blott "Allgäu-Ideen" vom 31.05.2008 in meinem weiteren Blog "Canabbaia").







Textstand vom 11.06.2011

1 Kommentar:

  1. Gut zu wissen! Vielen Dank für den tollen und informativen Artikel!

    AntwortenLöschen